5
Ein übler Geruch entströmt meinen Poren. Es ist der Gestank des Todes.
Scytale,
der letzte bekannte Tleilaxu-Meister
Das kleine grauhäutige Kind blickte besorgt auf sein älteres, ansonsten jedoch identisches Gegenstück. »In diesem Bereich hat nicht jeder Zutritt. Der Bashar wird sehr wütend auf uns sein.«
Der ältere Scytale zog ein finsteres Gesicht, enttäuscht, dass ein Kind mit einem so großen Schicksal so furchtsam sein konnte. »Diese Leute haben gar kein Recht, mir irgendwelche Vorschriften zu machen – ganz gleich, welcher Version von mir!« Trotz der jahrelangen Vorbereitung, Anweisung und Beharrlichkeit wusste Scytale, dass der Ghola-Junge immer noch nicht verstanden hatte, wer er eigentlich war. Der Tleilaxu-Meister hustete und zuckte zusammen. Er war nicht mehr in der Lage, seine körperlichen Beschwerden zu mildern. »Du musst dein genetisches Gedächtnis erwecken, bevor es zu spät ist!«
Das Kind folgte seinem älteren Ich durch den düsteren Korridor des Nicht-Schiffes, aber seine Schritte waren zu unsicher, um als verstohlen bezeichnet werden zu können. Gelegentlich benötigte der gebrechliche Scytale Unterstützung von seinem zwölf Jahre alten »Sohn«. Jeder Tag, jede Unterrichtsstunde sollte den Jungen näher an den kritischen Punkt heranführen, an dem die verborgenen Erinnerungen an die Oberfläche brechen würden. Dann konnte der alte Scytale endlich beruhigt sterben.
Vor Jahren war er gezwungen gewesen, seinen kostbarsten Besitz – seinen Geheimvorrat an wertvollem Zellmaterial – herzugeben, um die Hexen zu bestechen. Scytale bereute es, in diese Situation geraten zu sein, aber zum Dank für die Produktion von Helden aus der Vergangenheit, mit denen die Hexen ihre Ziele verfolgten, war Sheeana einverstanden gewesen, dass er in den Axolotl-Tanks einen Klon von sich heranzüchtete. Er hoffte nur, dass es nicht schon zu spät war.
Seit einigen Jahren verstärkte er mit jedem Satz, mit jedem Tag den Druck auf den jüngeren Scytale. Sein »Vater«, ein Opfer geplanten Zellverschleißes, bezweifelte, dass ihm überhaupt noch ein Jahr blieb, bevor er völlig zusammenbrach. Wenn der Junge sein Gedächtnis nicht bald – sehr bald – erlangte, wäre das gesamte Wissen des Tleilaxu verloren. Der alte Scytale zuckte angesichts dieser grausamen Vorstellung zusammen, die ihn mehr quälte als jeder körperliche Schmerz.
Sie erreichten eins der ungenutzten unteren Decks, wo sich eine Testkammer in den leeren Weiten des Schiffes verbarg. »Ich werde die Unterrichtsgeräte der Powindah einsetzen, um dir zu zeigen, wie die Tleilaxu nach Gottes Willen leben sollen.« Die Wände waren glatt und gekrümmt, die Leuchtflächen auf ein mattes Orange eingestellt. Der Raum schien voller schlaffer, geistloser Gebärmütter zu sein – der einzige Zustand, in dem Frauen einer wirklich zivilisierten Gesellschaft von Nutzen sein konnten.
Scytale lächelte bei diesem Anblick, während sich der Junge mit finsterer Miene umschaute. »Axolotl-Tanks. So viele! Woher kommen sie alle?«
»Bedauerlicherweise sind es nur holografische Projektionen.« Die nahezu perfekte Simulation schloss die Geräusche ein, die die Tanks normalerweise von sich gaben, sowie die Gerüche nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten.
Als Scytale inmitten der wunderbaren Bilder stand, sehnte sich sein Herz nach der Heimat, die er so sehr vermisste, einer Heimat, die nun restlos zerstört war. Vor Jahren, bevor ihm erlaubt worden war, noch einmal das heilige Bandalong zu betreten, hatten sich Scytale und andere Tleilaxu einem langwierigen Reinigungsverfahren unterzogen. Seit die Geehrten Matres ihm keine andere Wahl gelassen hatten, als mit seinem Leben und ein wenig kostbarem Besitz zu fliehen, hatte er versucht, die Rituale und Praktiken so oft wie möglich zu beobachten. Und er hatte versucht, sie dem jungen Ghola beizubringen. Doch es gab Beschränkungen. Scytale hatte sich lange Zeit als nicht ausreichend gereinigt empfunden. Aber er wusste, dass Gott Verständnis für ihn haben würde.
»So sah ein typisches Brutlabor aus. Präg dir alles genau ein. Ruf dir ins Gedächtnis, wie die Dinge waren und wie sie sein sollten. Ich habe diese Bilder aus meiner Erinnerung geschaffen, und dieselben Erinnerungen liegen auch in dir. Finde sie.«
Scytale hatte die gleichen Worte immer wieder gesagt und sie dem Kind eingebläut. Seine jüngere Version war ein guter und sehr intelligenter Schüler. Alle Informationen waren ihm bereits bekannt, weil er sie auswendig gelernt hatte, aber das Wissen war nicht in seiner Seele verankert.
Sheeana und die anderen Hexen verstanden nicht, wie gravierend die Krise war, die ihm bevorstand. Vielleicht war es ihnen auch gleichgültig. Die Bene Gesserit verstanden überhaupt nur sehr wenig von den Feinheiten der Wiederherstellung des Gedächtnisses eines Gholas. Sie sahen nicht, in welchem Moment ein Ghola bereit war. Doch Scytale konnte sich den Luxus des Wartens vielleicht nicht erlauben. Das Kind war auf jeden Fall alt genug. Der Junge sollte längst erwacht sein! Bald wäre er der einzige überlebende Tleilaxu, und dann würde niemand mehr seine Erinnerungen wecken können.
Als er die Reihen der Bruttanks musterte, trat der Ausdruck von Ehrfurcht und Einschüchterung ins Gesicht des jüngeren Scytale. Er sog alles in sich auf. Gut. »Dieser Tank in der zweiten Reihe ist der, aus dem ich geboren wurde«, sagte er. »Die Schwesternschaft hat die Frau Rebecca genannt.«
»Ein Tank hat keinen Namen. Er ist keine Person und war auch nie eine. Selbst wenn er sprechen könnte, wäre er nur ein weibliches Wesen. Wir Tleilaxu haben unseren Tanks niemals Namen gegeben, auch nicht den Frauen, aus denen sie entstanden sind.«
Er erweiterte das Bild und ließ die Wände verschwinden, sodass die Projektion eines riesigen Bruthauses sichtbar wurde. Ein Tank reihte sich an den anderen, und draußen waren die Straßen und Türme von Bandalong zu erkennen. Diese visuellen Hinweise hätten eigentlich genügen müssen, aber Scytale wünschte sich, er hätte weitere Sinnesempfindungen hinzufügen können, die weiblichen reproduktiven Gerüche, das Gefühl des heimatlichen Sonnenlichts, das tröstliche Wissen, dass zahllose Tleilaxu die Straßen, die Gebäude, die Tempel füllten.
Er verspürte schmerzende Einsamkeit.
»Ich sollte nicht immer noch am Leben sein und vor dir stehen. Es kränkt mich, einen alten, schmerzenden, allmählich versagenden Körper zu haben. Der Kehl der wahren Meister hätte mir schon vor langer Zeit die Gnade der Euthanasie erweisen und mich in einem neuen Ghola-Körper weiterleben lassen sollen. Aber in diesen Zeiten ist vieles nicht so, wie es sein sollte.«
»Es ist nicht so, wie es sein sollte«, wiederholte der Junge und schritt rückwärts durch eins der Holobilder. »Du musst Dinge tun, die du andernfalls nicht dulden würdest. Du musst heroische Anstrengungen unternehmen, um lange genug zu überleben, bis ich erwacht bin. Aber ich verspreche dir aus ganzem Herzen, dass ich Scytale sein werde. Bevor es zu spät ist.«
Der Erweckungsprozess eines Gholas verlief weder einfach noch schnell. Jahr um Jahr hatte Scytale Druck ausgeübt und den Geist dieses Jungen beschäftigt. Jede Unterrichtsstunde und jede Forderung, die er an ihn stellte, erhöhte den Haufen aus Kieselsteinen, und früher oder später würde er so hoch sein, dass das instabile Gebilde ins Rutschen geriet. Und nur Gott und sein Prophet konnten wissen, welcher kleine Stein der Erinnerung diese Lawine auslösen und die Gedächtnisbarriere niederreißen würde.
Der Junge beobachtete die wechselnden Stimmungen, die über das Gesicht seines Mentors zogen. Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, zitierte er eine tröstliche Lektion aus seinem Katechismus. »Wer vor einer unmöglichen Entscheidung steht, muss stets den Weg des Großen Glaubens wählen. Gott führt den, der geführt zu werden wünscht.«
Dieser bloße Gedanke schien Scytale seiner letzten Kraft zu berauben, und er ließ sich auf einen Stuhl im Simulationsraum sinken, um sich zu erholen. Als der Ghola an seine Seite eilte, strich Scytale seiner jüngeren Version über das schwarze Haar. »Du bist jung, vielleicht zu jung.«
Der Junge legte dem alten Mann tröstend die Hand auf die Schulter. »Ich werde es versuchen, das verspreche ich dir. Ich werde mir alle Mühe geben.« Er schloss die Augen und schien geistigen Druck ausüben zu wollen, als würde er sich gegen die immateriellen Mauern in seinem Gehirn stemmen. Schließlich, als ihm bereits der Schweiß ausgebrochen war, gab er es auf.
Der ältere Scytale war niedergeschlagen. Er hatte bereits sämtliche Techniken, die er kannte, eingesetzt, um den Ghola über die Grenze zu stoßen. Krisen, Paradoxa, gnadenlose Verzweiflung. Doch er spürte es deutlicher als der Junge. Klinisches Wissen genügte einfach nicht.
Die Hexen hatten eine Methode sexueller Verwirrung eingesetzt, um die Persönlichkeit des Bashars Miles Teg zu aktivieren, als sein Ghola erst zehn Jahre alt gewesen war, und Scytales Nachfolger hatte diese Marke bereits um zwei Jahre überschritten. Doch er konnte die Vorstellung nicht ertragen, wie die Bene-Gesserit-Frauen ihre unreinen Körper benutzten, um diesen Jungen zu brechen. Scytale hatte schon so viel geopfert und fast seine gesamte Seele verkauft, um einen Hoffnungsschimmer für die Zukunft seines Volks zu erhalten. Der Prophet würde Scytale angewidert den Rücken zukehren. Das durfte nicht sein!
Er stützte den Kopf in die Hände. »Du bist ein fehlerhafter Ghola. Ich hätte schon vor zwölf Jahren deinen Embryo entsorgen und einen neuen ansetzen sollen!«
Die Stimme des Jungen klang rau und wie zerfasert. »Ich werde mich konzentrieren und die Erinnerungen aus meinen Zellen hervorholen!«
Der Tleilaxu-Meister spürte schweren Kummer auf seinen Schultern lasten. »Es ist ein instinktiver Vorgang, kein intellektueller. Es kann nur mit dir geschehen. Wenn deine Erinnerungen nicht zurückkehren, bist du für mich ohne Nutzen. Warum sollte ich dich am Leben lassen?«
Der Junge gab sich sichtlich Mühe, aber Scytale sah kein Aufblitzen der Ehrfurcht und Erleichterung, keine plötzliche Flut aus Erfahrungen eines ganzen Lebens. Beide Tleilaxu schienen zum Scheitern verdammt zu sein. Mit jedem verstreichenden Augenblick spürte Scytale, wie er mehr und mehr starb.